Essbare Landschaft

 

Ideengärtner Sigi Tatschl feiert in Kirchberg am Wagram das Fest der Obstvielfalt.

 
 
 

Was für ein wunderbarer Wahnsinn. Was für eine Aufbruchsstimmung in einer Zeit, die durch Abstandsgebote, Einschränkungen und Auflagen geprägt ist:

Ein öffentlicher Garten, voller Obst, der Menschen verbindet und ganze Generationen zusammenführt.

Die Permakulturanlage „Alchemistenpark“ in Kirchberg am Wagram ist ein kleines Paradies voller Äpfel und Birnen, Maulbeeren und Kakipflaumen, Szechuanpfeffer und chinesischer Datteln. Das scheinbar Exotische und das naheliegend Soziale der Obstpflanzung verzaubert Menschen. Immer mehr Touristen zieht es nach Niederösterreich, um mit eigenen Sinnen zu erleben, was der Ideengärtner, Buchautor und Psychologe Sigi Tatschl da als begehbares Manifest der Gegenwartskultur angelegt hat.

Gemeinschaft pflanzen

Magister Sigi Tatschl, 1959 im Ypstal geboren, wuchs mit der „sozialen Ader auf, Gerechtigkeit zu thematisieren“, wie er im Gespräch mit der Radiomoderatorin Gabriele Ebmer im November 2014 sagt. Prägend war seine Kindheit in einem Häuschen mit Kleinstlandwirtschaft inmitten von Großbauern im Mostviertel. Bilder „bunter Blumenwiesen mit Glockenblumen und Knabenkraut verbanden sich mit deren Verschwinden, das scheinbar über Nacht geschah“, erinnert sich Tatschl. Das glückliche Landleben hatte auch eine Kehrseite, die Konflikte zwischen Bauernschaft und Arbeiterschaft, zwischen Großbauern und Kleinhäuslern. „Die Wege oder Schotterstraßen waren von Kirschbäumen oder Nussbäumen gesäumt. Davon träume ich. Vermutlich ist es auch das, was mich antreibt. Diese inneren Bilder, mit denen ich aufwuchs und der Schmerz, den ich verspüre, wenn ich an die Rodungen denke, an die Planierung der Landschaft, die Drainagierung, die Hecken, die eine lebendige vielfältige Landschaft ausmachten. In den sumpfigen Bereichen wuchsen die Erlen, und ich war fasziniert, wenn ich meine Speere und Stöcke aus Erlenholz schnitzte, wie sich die rotbraune Färbung des Erlenholzes ausbreitete. Das alles war in Verbindung mit Menschen, die mich mochten, bei denen ich willkommen war und die mir ihre Liebe für die lebendige Umwelt vermittelten.“

All das formte Tatschls Denken, der später Psychologie studierte und sich stark sozial engagierte. Nur aus beiden Quellen sind Initiativen wie „essbare Landschaften“ und das „Fest der Obstvielfalt“ überhaupt denkbar: Pflanzen hat immer etwas mit Gemeinschaft zu tun. „Der Ausspruch, ‚das Obst bringt die Menschen zusammen‘, den ich spontan bei einem TV Interview sagte und der seither zitiert wird, der stammt wohl aus diesen Erfahrungen“, sagt Tatschl, der sich für eine solche „generationsübergreifende Erfahrung und Verbindung“ einsetzt. Die jüngsten Obstfreunde, Söhne von Freunden im Ort, sind vier und sechs Jahre alt.

Beim jährlichen Obstbaumschnitt helfen sie fleißig mit. „Und ich bin glücklich, wenn sie mit den rotgefärbten Fingern und dem Gesicht eingefärbt von Maulbeeren vor mir stehen und begeistert zugreifen und die Süße und Aromen der Früchte genießen.“

Magie der Früchte

Für Tatschl gibt es eine Magie der Früchte: „die Unmittelbarkeit des Genusses, die Süße, die Säure, die Aromen und die Farben der Früchte. Das ist unser evolutionäres Erbe. Im Wald die roten Früchte erkennen, in der Savanne von weitem die roten oder gelben Früchte erblicken und wissen, jetzt sind sie reif. Über Jahrmillionen haben wir Primaten uns in Coevolution mit den Früchten entwickelt.“ Der Psychologe weiß, wie er Menschen gewinnt – nicht zuletzt über sinnliche Qualitäten, wenn Worte an ihre Grenzen kommen. Kein Wunder, dass Tatschl auch eine ganz besondere Verbindung zu Holz hat: „Obstgehölze haben so unterschiedliche Qualitäten, von der tollen Maserung des Schwarzen Maulbeerbaums über Aprikosenholz, Speierling oder der Erdbeerbaum in der Machia. Ich bin immer fasziniert von den Farben, den Einschlüssen im Holz oder dem Duft. Dabei denke ich an die Traubenkirsche, die nach Mandeln duftet.

Meine Botschaft oder meine Vision ist: Pflanzt viele Obstbäume und -sträucher, so dass für den Fruchtgenuss und die Holzernte genug da ist.“ Tatschl wird sehr poetisch, wenn er über Naturerlebnisse spricht, die immer auch Geschichten sind mit Menschen: „Die Obstpflanzen laden ein zum Zugreifen, zum Berühren, zur Beziehungsaufnahme im Sinne von: Kommt nächsten Juli wieder, dann gib es wieder saftig süße Aprikosen.“

Leben im Gesellschaftsgarten

Gärten und Gesellschaft, das ist eine innige Beziehung. Nicht umsonst ist das Paradies als ein solcher Ort dargestellt, ein Platz, an dem die Zeit stillgestellt ist und der Mensch im Einklang mit der Natur lebt. Gärtner mögen manchmal ein anderes Lied davon singen, aber auch sie wissen, dass sie nicht nur für sich, sondern auch für die nächste Generation arbeiten. Aus diesem Ansatz wuchs im Australien der Siebziger Jahren die Vorstellung von Permakultur (oder Permanent Agriculture), eine nachhaltige Bio-Landwirtschaft und Lebensweise. Nicht umsonst gehören die drei ethischen Grundsätze – „Earthcare“, „Peoplecare“ und „Fairshares“ – zusammen. Was für eine Gemeinschaft ist das eigentlich, die da in der niederösterreichischen Gemeinde Kirchberg am Wagram die Allmende, das Stück öffentliche Grünflächen Schritt für Schritt in einen gemeinschaftlich genutzten Garten verwandelt, den sogenannten Alchemistenpark, in dem über 200 verschiedene Obst- und Nussarten gedeihen? Nun, es sind ganz normale, ganz engagierte Bürgerinnen und Bürger, die einen Gemeinsinn pflegen, der durch den Magen geht. Denn die Ideen des Permakulturpioniers, Sozialarbeiters, individualspsychologischen Psychotherapeuten und Supervisors sind einfach ansteckend. Das mag an seiner ausgeprägt sozialen Ader liegen.

 
 
 
 

Wenn Ideen Wurzeln schlagen

Am Anfang steht der Obstgarten in Kirchberg am Wagram, der Alchemistenpark (https://www.kirchberg-wagram.at/tourismus/ alchemistenpark.html), 2007 angelegt von Sigi Tatschl, Mitarbeitern des Bauhofs und begeisterten Mitbürger*innen und Mitstreiter*innen. Wie schon der Name sagt: Ein kleines Wunder ist zu erleben, das da seit über anderthalb Jahrzehnten wächst und gedeiht. Exoten wie Indianerbanane, chinesische Dattel und japanische Maulbeere finden sich dort, aber auch Klassiker aus Mitteleuropa, alte, fast verlorene Obstsorten, wie die Hagebuttenbirne und die Ziehbartl, die andernorts längst verschwunden sind, teils, weil sie nicht Spitzenerträge (in Kilogramm) lieferten oder einfach nicht mehr ins Bild passten in einer Zeit, die gewohnt war, alles im Supermarkt zu kaufen und nichts mehr selbst anzubauen oder gar mühsam zu pflegen. Das hat sich fundamental geändert. Nicht nur in den Großstädten sprießen Gemeindegärten aus dem Boden und Selbsthilfegruppen, die gemeinsam pflanzen, ernten und einkochen. Ein Gemeinschaftsgarten ist eben viel mehr als eine Ansammlung von essbaren Pflanzen, er erzieht zur Gemeinschaft, zum Miteinander, zum Austausch und womöglich auch zu mehr Toleranz und Zusammenhalt. Denn selbst der Apfel ist ein Exot, klärt Sigi Tatschl auf, der komme eben aus China und Kasachstan, sei aber schon lange hier heimisch. Das Gute an den scheinbaren Exoten. Viele kommen mit Trockenheit, ja Hitze und Schädlingen bestens zurecht – Obst mit Zukunft eben. Alle anderen werden gemulcht und überstehen den Sommer so ebenfalls mit recht wenig Pflege.

Längst hat sich die Marktgemeinde Kirchberg am Wagram mit ihren gerade 3710 Einwohnern zu einer eigenen Destination entwickelt. Ideengärtner Sigi Tatschl nennt das sogar „Obstgartentourismus“. Seine Idee: „Von einem öffentlichen Obstgarten zum nächsten fahren. Das ist meine Vision eines Obstgartentourismus.“ Bei den unterschiedlichen Blüh- und Reifezeiten der verschiedenen Obstsorten ergäben sich im Frühjahr bis in den Spätherbst „attraktive fruchtige Reiseziele“. Das hat einen ganz pragmatischen Grund: „Erinnerungsspuren an Obstbäume, von denen man gekostet hat, sind etwa so, wie gute Restaurants uns in Erinnerung bleiben“, sagt Tatschl. „Dort möchte man wieder hin, damit ist eine positive Essenserfahrung verbunden. Auch den Baum mit den sauren Früchten merkt man sich, der wird gemieden oder vielleicht nach Jahrzehnten wieder aufgesucht und probiert, ob die Früchte auch heute noch so sauer sind. Das macht die Stadt oder Dörfer oder Landstriche lebendig.“

Wer sich wandeln kann

Alchemistenpark! Ideengärtner und Psychologe Sigi Tatschl erklärt den Namen des Parks, der auf ein nahes Alchemistenlabor aus dem 16. Jahrhundert verweist, vor allem aber die Idee der Verwandlung aufgreift: Aus (scheinbar) Unedlem wird Hochwertiges – Blei zu Gold. Tatschl geht einen Schritt weiter und erklärt die Transformation einst kleiner, herber Wildobstsorten zu „Kultursorten“. Halb augenzwinkernd, halb ernst spricht der Psychologe von der Verwandlung der Menschen. Wie das geht, kann jeder am eigenen Leib erleben, indem sie/er einen Garten anlegt, etwas pflanzt und sich sich spätestens nach einigen Tagen dabei ertappt, wie sie/er mit Argusaugen darüber wacht, dass aus dem Schössling auch wirklich etwas wird, er wächst und gedeiht.

Der Alchemistenpark mag zwar das Kernstück sein, inzwischen wachsen weitere Obstbäume, verstreut über die ganze Gemeinde. In der Gemeinde heißt es nicht ohne Stolz „Obstgarten Kirchberg am Wagram“ – ein ganzer Ort als essbare Landschaft und generationenübergreifender Treffpunkt. Alle Menschen „sollen im Alltag erleben, was alles im Garten möglich ist“, sagt Tatschl, der etwas von seinen Ideen für die kommenden Generationen bewahren möchte. Nur, wenn sich möglichst viele um den Garten kümmern und Vielfalt erleben, werde sie weiter gepflegt, ist Tatschl überzeugt.

In der unmittelbaren Genusserfahrung sieht der Psychologe einen Kontrapunkt zur Informations- und Reizüberflutung die unsere Zeit auszeichnet. „In einen Apfel zu beißen, eine neue Frucht wie die Strandpflaume erstmals zu verkosten, ist Konzentration pur, ist Eindeutigkeit.“ Und fügt hinzu: „Wenn ich verschiedenen Menschen zusehe, wie sie zugreifen, sich bücken, um eine Beere zu ergreifen, wenn sie Taschen füllen, dann bin ich glücklich und spüre den tieferen Sinn dieser Initiative. Letztlich sind wir Menschen alle Sammler und interessiert an Neuem.“

Sigi Tatschl ist und bleibt Optimist und zitiert zum Schluss Reformator Martin Luther: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Das hat Tatschl längst getan. Mehr noch: Er hat Menschen angeregt, Neues zu tun und manches Alte mit neuen Augen zu sehen.

 
 

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