Fels im Granitmeer

 

Edler Materialmix in sardischer Villa bei Porto Cervo. Beton wächst aus Granit. Azulejos fließen über Wände und Böden und verleihen dem Haus Kühle. Akzente hingegen setzen Einbauten aus Nussbaum, Wildnuss und Esche.

TÜREN, 3-SCHICHT, NUSSBAUM, WILDNUSS, ESCHE

 
 
 

Inmitten hoch aufragender Granitfelsen, verwachsener Olivenbäume und Buschwerk thront die Villa über einer Bucht der sardischen Costa Smeralda. Sie schmiegt sich regelrecht in eine Felsmulde und füllt mit Haupt- und Nebengebäuden flächig das Plateau aus. Rundtürme, Tonnengewölbe und Kuben verleihen dem Ensemble einen archaischen Charme und erinnern an die Nuraghen, jene rätselhaften Turmbauten aus vorrömischer Zeit. Die sardische Costa Smeralda rund um Porto Cervo ist seit Jahrzehnten Inbegriff der Haute Volée – inklusive weißer Yachten, mondäner Villen und edler Boutiquen. Der einstige Fischerort wurde 1962 von Aga-Khan auf die Landkarte des internationalen Jet-Set gesetzt, als Retorten- Siedlung für Freunde und bekannte Zeitgenossen. Zuvor war Sardiniens Smaragdküste eher für einsame Buchten bekannt. Süffisant schreibt der britische „Guardian“ noch 2007 über einen „Paparazzo-geplagten Strudel, der jedes Jahr Showgirls, Oligarchen, Betrüger und Golfprinzen an Bord einiger der größten Yachten der Welt anzieht.“ Offenbar hat sich etwas verändert an der wildromantischen Küste der zweitgrößten Mittelmeerinsel. Architektin Stefania Stera hat selbst hier Familie. Sie kennt Porto Cervo.

Als Kind sah sie, wie der Ort wuchs und erinnert sich an wilde Kletterpartien über sardische Felsen: „Ihre fantastischen Formen haben meine Fantasie beflügelt“, sagt die gebürtige Römerin, die seit Jahren ein Büro in Paris führt. Ihr Schwerpunkt: Wohnbau. An der Nordostküste Sardiniens konnte sie ihre Fantasie aus Kindertagen ausleben. Das stattliche Anwesen samt Stellplätzen für ein halbes Dutzend Fahrzeuge folgt der Topographie aus Felsen und Buschwerk, die über Terrassen und Vorsprünge zum Mittelmeer abfällt. Haupthaus, Gartenpergola und Hausmeisterwohnung sind über ein komplexes Gewebe aus Treppen und Höfen miteinander verbunden. Es scheint fast, als antworte die Architektin auf all die bizarren Felsen der Umgebung. Der Bauherr ließ ihr dabei völlige Freiheit – und Stefania Stera nutzte den Gestaltungsspielraum: Die Küche fließt in den Garten und die Außendusche verläuft quer durch rohe Granitblöcke. Manchmal ist nicht ersichtlich, wo das Haus endet und die Terrasse beginnt. Marmor und Azulejos jedenfalls wirken wie ausgegossen und in der Mittagshitze erstarrt, während die anthrazitfarbene Beschichtung der Fassade an die umliegenden Felsen erinnert – oder sogar an Lehmbauten der südlichen Sahara.

 
 
 

Auf Messers Schneide

Materialien spielen eine große Rolle bei diesem Anwesen, ein Mix, der teilweise auf Messers Schneide balanciert, mit wechselnden Böden aus Granit und Azulejos in Blau-, Grün- und Grautönen. Diese fügen das Haus in seine üppige Umgebung ein und verleihen ihm zusammen mit wilden Marmorplatten jene Kühle, die es im Sommer braucht, um Temperaturen weit über 30 Grad zu ertragen. Granit empfängt die Besucher und schlägt eine Brücke zur steinernen Umgebung, während Marmor wie ein wilder Teppich Wohnraum und Terrasse verbindet. Azurblaue Azulejos spiegeln den südlichen Himmel gegen die schlammfarbenen Wände. Im Inneren kombiniert die Architektin venezianischen Terrazzo, Sandstein der Florentiner Renaissance (Pietra Serena) mit wechselnden Marmorsorten und weißem Putz, der das Licht tief ins Innere leitet. Nussbaum mit Splint, Nussbaum-Wild und Esche setzen dagegen einen warmen Grundton, reserviert für Schlafzimmer und Speiseraum. Unter einer großen Tonne und einem schwebenden Stück Treibholz die lange Tafel für Freunde des Hauses. Holz umfängt die Besucher, die auf einfachen Bänken Platz nehmen. Die Architektin entschied sich hier für einen Kontrast zwischen einfachen Putzflächen und lebendigem Holz: Nussbaum mit Splint, Nussbaum-Wild und Esche bilden den reiklang, aus dem Stefania Stera einen Raum formt, der an eine apelle erinnert – oder ein Refektorium: einen Ort, an dem alle zusammenkommen, um das Abendessen einzunehmen. Das einfache Leben, gewendet ins Raffinierte, hier ist es mit Händen zu greifen.

Die an einfache Holzhütten und ausgebleichte Sandfarben erinnernde rohe Materialität ist höchst kunstvoll eingesetzt. „Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde“, schrieb Henry David Thoreau 1854 in seinem Klassiker „Walden oder das Leben in den Wäldern.“ Thoreau lebte in einer Hütte am See und feierte das puristische Leben als gedankliches Experiment: Wie viel Zeit muss man mit der Lohnarbeit zubringen?

Und welche Möglichkeiten eröffnen sich einem Menschen, der seine freie Zeit darauf verwendet, die Natur zu erkunden, zu lesen, zu schreiben oder einfach nur nachzudenken? Architektin Stefania Stera zitiert das einfache Leben augenzwinkernd, mit opulenten Stoffen und rauen Oberflächen – angelehnt an sardische Materialien und Traditionen.

Alles um einen Hof

Die gesamte Anlage spielt mit Kräften und Gegenkräften, wilden Mustern und ruhigen Passagen. Stefania Stera sah in dem Komplex den Schnittpunkt zweier Achsen, von denen eine zum Meer weist und die andere zum Felsengarten, der das Haus umgibt. Die wichtigsten Räume sind zum großen Hof hin ausgerichtet, den am späten Nachmittag das Licht der untergehenden Sonne flutet. Hier trifft sich die Familie mit Freunden, um den Abend einzuläuten, während von der See eine frische Brise aufzieht. Hier liegt auch der Hauptzugang zum Haus, das sich zum Meer orientiert, als hätte es ein chinesischer Feng Shui-Meister ausgerichtet: Im Rücken schützende Felsen, schräg vorne das Wasser. Das Wohnzimmer liegt parallel zum Meer. as Esszimmer ist nach Westen ausgerichtet. Ein großer Patio an der Nordseite des Hofes bildet eine Veranda mit Zugang von der Straße. Eine Treppe führt zum Dach, das zum Teil als Terrasse angelegt ist, der Rest ist begrünt. Höfe, Patios und Terrassen strukturieren das Ensemble. Der Blickgleitet über Granitfelsen und Sträucher unweigerlich zum Meer und verliert sich am Horizont, dort, dort, wo Wasser und Himmel aufeinanderzutreffen scheinen.

 
 
 
„Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde“
— Henry David Thoreau, 1854

ÜBER DAS PROJEKT

Typ

Architektur

Ort

Porto Cervo

Architektur

Stefania Stera
53 boulevard de Montparnasse
75006 PARIS
Tél: 01 42 84 23 08
E-mail : agence @steraarchitectures.com
steraarchitectures.com

Datum der Fertigstellung

2019

Fotografie/Visualisierung

© Tiziano Canu

 
 
 

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